Grenzen überwinden,

    Kinder schützen,

Familien verbinden.

Das Erdbeben in Haiti: Internationale Adoption

Positionspapier des ISS/IRC (Deutsche Übersetzung)

Wie bei jedem dramatischen Ereignis, von dem ein Land heimgesucht wird, stellt sich auch im Zusammenhang mit dem Erdbeben in Haiti erneut die Frage nach der Möglichkeit der internationalen Adoption von Kindern. 

In diesem Zusammenhang weist ISS / IRC zunächst einmal darauf hin, dass internationale Adoptionen grundsätzlich nicht in Situationen von Krieg oder Naturkatastrophen stattfinden sollten, da es unter solchen Umständen unmöglich ist, eine Überprüfung der persönlichen und familiären Verhältnisse eines Kindes durchzuführen. Jede Aktion, die darauf abzielt, Kinder, die Opfer von Erdbeben geworden sind, durch Adoption oder Evakuierung in ein anderes Land zu bringen, sollte absolut vermieden werden, wie dies auch im Falle des Tsunami im Jahr 2004 der Fall war. 

Im Falle von Haiti stehen wir jedoch vor einem neuen Problem: Wie soll auf die vielen Adoptionsfälle reagiert werden, die bereits vor dem Erdbeben anhängig und noch nicht abgeschlossen waren? Schon jetzt haben einige Aufnahmeländer die Absicht angekündigt, alle anhängigen Adoptionen „einzufrieren“, da die Behörden von Haiti zurzeit nicht in der Lage sind, die Verfahren ordnungsgemäß abzuwickeln. Dagegen planen andere Aufnahmeländer, Evakuierungskampagnen für Kinder so schnell wie möglich in die Wege zu leiten; in dieser Situation weist ISS/IRC nochmals auf folgende Punkte hin:

Aufgrund des aktuellen Zustandes, in dem sich das Land befindet, ist der Transport von lebensnotwendigen Hilfsgütern extrem schwierig aufgrund der Überlastung wichtiger Kommunikations-  und  Transportwege  (insbesondere  des  Flughafens  in  Port-au-Prince).  Die Mobilisierung von Kräften in einer solchen Notlage sollte sich hauptsächlich auf den Bedarf der Mehrheit der Bevölkerung konzentrieren. Alle Initiativen, die eine zusätzliche Belastung für die vorhandenen Hilfebemühungen bedeuten würden, sollten zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden, und Priorität sollte den derzeit laufenden Aktivitäten eingeräumt werden, die sich auf die Grundbedürfnisse der Menschen konzentrieren.

Bei der Adoption von Kindern ist es wichtig, zu unterscheiden zwischen Kindern, die zur Adoption freigegeben wurden, und Kindern, für die ein Adoptionsbeschluss (Gerichtsurteil) bereits getroffen wurde. Für Kinder, für die geeignete Adoptiveltern gefunden wurden und für die ein Adoptionsbeschluss (Urteil) ergangen ist, könnte eine Übersiedlung dieser Kinder zu ihren Adoptivfamilien unter folgenden Voraussetzungen in Erwägung gezogen werden:

1)  Die Identifizierung des Kindes und sein Aufenthaltsort sind durch die notwendigen Sicherheiten abgesichert, insbesondere durch Kopien seiner Akte, die im Aufnahmeland eingereicht wurden; die Personendaten sind ordnungsgemäß gespeichert;

2)  Die psychosoziale Adoptierbarkeit des Kindes (d.h. die Frage, ob es adoptiert werden kann) wird nochmals überprüft im Hinblick auf das Trauma, das es erlitten haben könnte (emotionaler Schock, Verletzungen, etc.);

3)  Es wird festgestellt, dass die Akte des Kindes vollständig ist und der Adoptionsbeschluss (Gerichtsurteil) ergangen ist;

4)  Die diplomatischen Vertreter der betroffenen Aufnahmeländer sind in der Lage, die tatsächliche Identität, Adoptionsakten und die Situation der alternativen Unterbringung der Kinder zu überprüfen;   

5)  Die haitischen Behörden sind ordnungsgemäß informiert und am Abschluss der jeweiligen Adoption beteiligt.

Für  Kinder,  die  diese  Voraussetzungen  nicht  erfüllen,  sollte  zu  diesem  Zeitpunkt  nichts unternommen werden, um das Adoptionsverfahren zu beschleunigen. Es sollte nicht vergessen werden, dass Auslandsadoptionen in Haiti seit einiger Zeit oft Anlass zu ernsthaften Bedenken gaben,  die  sich  auf  das  Fehlen  von  Sicherheiten  und  Transparenz  bezogen. Soweit die erforderlichen Absicherungen nicht vorhanden sind, sollte die Auslandsadoption vorläufig eingestellt werden, bis die Verwaltungs- und Justizsysteme in Haiti wiederhergestellt sind.

ISS / IRC weist darauf hin, dass man Zeit braucht, um die oben genannten Voraussetzungen zu erfüllen, die nicht übereilt umgesetzt werden können. Hinzu kommt, dass diese Kinder zurzeit extremen Belastungssituationen ausgesetzt sind, so dass ein plötzlicher Wechsel in ein neues Land und eine neue Familie psychische Auswirkungen haben könnte, die nicht einschätzbar sind. Nach den Richtlinien, die vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) entwickelt wurden, ist  die Evakuierung solcher Kinder oder ihre vorübergehende Unterbringung in Familien im Ausland ebenfalls traumatisch. Es würde einen weiteren Umbruch für das Kind bedeuten, das bereits traumatische Verletzungen erlitten hat. In der Phase der akuten Not sollten sich die Anstrengungen der betroffenen Länder, internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen darauf konzentrieren, dem Kind elementaren  Schutz  zu  bieten  (z.B.  Unterkunft,  Nahrung,  medizinische,  emotionale  und psychologische Hilfe, erzieherische Unterstützung), so nah wie möglich an den tagtäglichen Lebensbedingungen orientiert; eine mögliche Umgruppierung sollte in jedem Fall nur zu anderen Kindern oder Erwachsenen, die ihm gut vertraut sind, erfolgen. 

Und schließlich möchte ISS / IRC die Aufnahmeländer für internationale Adoptionen dazu aufrufen,  ihre  Vorgehensweise  miteinander  sowie  mit  den  UN-Behörden  und  Nichtregierungsorganisationen  abzustimmen,  um  ein  einheitliches  Konzept  für  die  Lösung  dieses Problems zu entwickeln und um zu vermeiden, dass sich widersprechende Entscheidungen getroffen und schlechte Initiativen ergriffen werden.

ISS / IRC ist sich der Schwierigkeiten und des Leidens, das dieses Erdbeben verursacht hat, bewusst und möchte sein tiefstes Mitgefühl für die haitische Bevölkerung zum Ausdruck bringen, und wir haben Verständnis für die schwierige Situation von Adoptiveltern, die sich in einem  laufenden  Adoptionsverfahren  befinden.  Dennoch  möchten  wir  die  verschiedenen Akteure, die an internationalen Adoptionen beteiligt sind, dazu aufrufen, Zurückhaltung und Reflektion bei der Bewältigung dieser Krise zu üben und allzu emotionale Reaktionen auf ein so sensibles Thema, wie es die Adoption dieser Kinder ist, zu vermeiden.

 

ISS / IRC

18. Januar 2010

 

"Das Erdbeben in Haiti: Internationale Adoption" - Positionspapier des ISS/IRC